Texte - Herbert Stepan - Das Portrait heute

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Herbert Stepan

Das Portrait heute.

Als Portraitist habe ich mich mit der menschlichen Figur, mit der Darstellung des Menschen, mit der Bildnismalerei ein Leben lang beschäftigt und halte das menschliche Antlitz für den würdigsten Gegenstand der bildenden Kunst. Erfassen und Darstellung und Hervorbringung gehen ineinander über. Das in einer geistigen Auseinandersetzung Erfasste ist zu gestalten, wobei es sicher nicht genügt, die äussere Erscheinung festzuhalten. Ich weiss, dass ich mit diesem Thema Gefahr laufe, in eigener Sache zu sprechen und dass ich vielleicht der Gefahr nicht ganz entgehen werde, meine Meinung zu verallgemeinern und von mir auf andere zu schließen. Aber gleichzeitig scheinen sich mit diesem Thema zwangsläufig Überlegungen zur Situation des Menschen im Allgemeinen zu ergeben. Nein, nicht nur scheinen. Die Zeugnisse der bildenden Kunst aller Epochen lassen uns das jeweilige Bewusstsein des Menschen von seiner Rolle in der Welt erahnen. Sie lassen uns das wechselnde Selbstbewusstsein der Menschheit und das der jeweiligen Gesellschaft erkennen. So kann uns auch ein Blick auf die jüngste Vergangenheit mit ihren Tendenzen und auf die der Gegenwart Aufschlüsse geben über die Rolle, die sich der heutige Mensch zugedacht hat und über die Vorstellungen, die sich der Mensch heute von sich selber macht. Ist der moderne Mensch auf der Suche nach seinem eigenen Bild? In einer Zeit der Bedrohung, der Angst, der Anklage, der Unsicherheit, in einer Zeit, die an allem zweifelt, in der das Schlechte kaum mehr mit Namen zu nennen ist, in der nur nüchternes Zweckdenken die Zukunft sichern will, in solch einer Zeit kann es kein ungebrochenes Bild vom Menschen geben. Kann es wirklich keines geben? Es ist zeitgemäß, vom "verlorenen Menschenbild" zu sprechen und die bildende Kunst von heute scheint diese Aussage mit vielen ihrer Tendenzen zu bestätigen. "Nur die verstörte Kunst ist eine notwendige Kunst" ist eine viel beachtete Behauptung, ein vielfach befolgter Aufruf. Gilt da der Mut und der Wille und der Entschluss nicht mehr, das Bild des Menschen aufzurichten? Schockieren bessert nichts und Schockieren kann meiner Meinung nach nicht einzige Aufgabe der Kunst sein, auch heute nicht. Sicher, kein Künstler kann die Welt verändern oder retten, aber er kann den Zugang offen halten zu dem Erlebnis einer kosmischen Weltwirklichkeit. Starren wir nicht zu sehr auf die heutige Situation des Menschen? Wird Aktualität nicht Überbewertet? Haben nur die gesellschaftlichen Ver- hältnisse das Primat? Soll nur das Problematische oder die Übereinstimmung mit der unmittelbaren Gegenwart - mit dem Zeitgemäßen also - entscheidend für den Rang eines Kunstwerkes sein? Aktualität verbürgt noch lange nicht den Wahrheits- oder Wirklichkeitsgehalt eines Werkes. Nicht zur Zeit des Entstehens und auch nicht später, nie läßt sich der Rang eines Kunstwerks allein nach dessen Aktualität bewerten. Die Zeitlosigkeit echter künstlerischer Aussage ist aber in einem anderen Sinn lebendig und bedarf keiner provozierenden Absicht, ihren Rang zu erweisen. Die Werke vergangener Kunstepochen sind in ihrer geistigen Gegenwart eine überzeitliche Ge- genwart. In ihrer Unäbhängigkeit von der Zeit sind sie aller Zeit überlegen. Es kann nicht der höchste Anspruch der Kunst sein, mit der Zeit, mit der Gegenwart übereinzustimmen. Vielleicht gilt es sogar, im Werk die Zeit zu überwinden. Pindar sagt: "...was wir sind, schon sind wir's nicht mehr. Ein Traum des Schattens, das ist der Mensch. Aber kommt nur ein Strahl von Gott her, gleich ist es hell und das Leben dünkt uns freundlich." Sind solche Worte für uns unzeitgemäß? Ist der Mensch heute nur auf sich selbst gestellt? Ist er heute sich selbst zur Frage geworden? Haben wir alle innere Orientierung verloren? Sind wir der Forderung nicht mehr gewachsen, uns Maßstäbe zu setzen? Haben wir heute mehr Widersprüche in uns als die Menschen vergangener Zeiten? Verhindert ein zuviel an Fragen, verhindert nicht das Hinterfragen und das Analysieren jede Besinnung und vor allem den Mut zu sich selbst, zu dem eigenen Weg, zur eigenen Überzeugung.

Die Werke der bildenden Kunst und die Werke der Bildnismalerei im besonderen, lassen Schlüsse zu auf die Situation des Menschen in der Gesellschaft, auf den Künstler, auf die Zeit, auf den betreffenden Zeitraum. Lange Zeit war das Bildnis dem Kultischen verpflichtet. Lange Zeit ist die Menschendarstellung nur typisiertes Abbild. Erst einige Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung tauchen die ersten Zeugnisse realistischer Portraitdarstellungen auf. Sie zeugen davon, dass der Mensch das Subjektive seiner Existenz zu erfassen begann, dass sein Selbstverständnis zum Thema der Kunst wurde. Die Bildniskunst spiegelt das Bewusstsein des Menschen. Dieses Selbstbewusstsein schwankt zwischen Extremen, hat von Epoche zu Epoche die unterschiedlichsten Funktionen und ist vom Bewusstsein der Gesellschaft mitgeprägt. Der jeweilige Formkanon, die Zeitklischees und die herrschende Konvention sind Gestaltungsfaktoren und Produkt von Erwartungen. Die Vorstellung von der individuellen Persönlichkeit gewinnt immer mehr an Bedeutung. Immer neue Bildnisauffassungen, immer neue Darstellungsformen zeugen von den Wünschen des Einzelnen wie der Gesell- schaft, zeugen von Wünschen nach Selbstbestätigung, nach Selbstverwirklichung.

Die antike Tradition verfolgend, gab das Mittelalter dem Herrscherportrait, dem Portrait des Würdenträgers immer noch eine mehr oder weniger typisierte Form. Die Darstellung bestimmter Per- sönlichkeiten beginnt in der Neuzeit mit dem Heiligenbild und der Darstellung seines Stifters. Nach der sakralen Kunst kommen immer neue Dimensionen des Menschlichen zur Wirkung und führen zu neuen Bildnisauffassungen. Immer spüren wir, wie sich der Mensch selber sah und wie er gesehen sein wollte. Wir erkennen Wunschvorstellungen und Leitbilder, denen der Mensch anhing und folgte. Im Portrait des Einzelmenschen, mit dessen äusserer Erscheinung auch etwas von seinem Wesen festgehalten ist, sehen wir durch alle Jahrhunderte den Staatsmann, den Fürsten, den Würdenträger, den Humanisten, den Dichter, den Patrizier, den Kaufmann, den Gentle- man, den Wissenschaftler, den Bürger, die Frauen zu allen Zeiten in ihrer menschlichen und historischen Realität. Es sind Gesichter voll Persönlichkeit oder auch nur Mittelmaß, voll Bedeutung und Charakter, voll Schönheit und menschlicher Größe, aber auch Hässlichkeit und Unzulänglichkeit. Es zeigt uns den ganzen Menschen, seine Höhen und Tiefen. Die Bildnismalerei war niemals dazu da, der Eitelkeit des Menschen Genüge zu tun. Die Galerien der Welt sind gleichsam Schatzhäuser menschlicher Physiognomien, glaubhafte Dokumente menschlichen Schicksals und sind Spiegelungen menschlicher Träume. Und heute? "Zum erstenmal in seiner Geschichte steht der Mensch sich ganz allein gegenüber" sagt Heisenberg. Und weiter: "Er ist absolut autonom, er umgibt sich mit einer Welt, die er selbst gemacht hat."

Hat also das gemalte Bild vom Menschen, hat das Portrait noch gesellschaftliche Relevanz? Ist der Problemdruck der Gegenwart so stark, dass der Mensch, dass die Kunst sie nicht aushält? Verhindert die bedrohte Situation des heutigen Menschen, verhindert seine isolierte Intelligenz und seine moralische Neutralisierung, ein Kulturbewusstsein, einen Kulturwillen? Ist aus Mangel an Kulturwillen die Kultur heute in ein Reservat gedrängt? Ist unsere Gesellschaft anonym und daher gesichtslos? Erscheint daher die heutige Kunst insgesamt - ob gegenständlich oder gegenstandslos - ohne Beziehung zum menschlichen Antlitz?

Eines ist gewiss, dass alle Erscheinungsformen und Tendenzen in der heutigen Malerei als Aspekte eines Menschenbildes erkannt werden müssen, dass sie vom geistigen Standpunkt des Menschen Zeugnis ablegen, dass sie , ohne Darstellung zu sein, ein Bild vom Menschen, wenn auch nicht zeigen, so doch ahnen lassen, aber der Gefahr der Imagination nicht entgehen.

Das schon an sich schwer eingrenzbare Thema "Portrait heute" wird noch problematischer durch den Blick zurück auf große Epochen, in denen die Bildniskunst als verbindlicher Ausdruck ihrer Zeit geschätzt wurde und so den Beweis erbrachte, dass die Kunst immer einem ausserkünstlerischen Wertesystem verpflichtet war und durch den Blick auf die Gegenwart, die das Bildnis mehr oder weniger eliminiert hat.

Ob es eine neue Wirklichkeit in der Kunst geben wird, ist ebenso eine Sache des Weltverständnisses wie die Frage nach dem Bildnis heute. Ich glaube, dass die Entscheidung nur durch den Künstler gemacht und erbracht werden kann.

Konkrete und leichter zu erkennende Sachverhalte geben aufschlussreiche, wenn auch nicht alles umfassende Erklärungen für die Verdrängung der Bildniskunst. Es ist die Bilderflut, die der Mensch über sich ergehen lässt. Es ist die maßlose Übersättigung mit Bildern in allen Bereichen des Alltags. Marktschreierische Plakatwände, Prospekte, Zeitschriften, Magazine, die Allgegenwart des Fernsehens haben jedes natürliche Bildbedürfnis des Menschen pervertiert und abgestumpft. Die Kamera hat die Palette abgelöst - so wird es zumindest gesagt und es scheint zuzutreffen. Die Fotografie und nur sie garantiert eine perfekte Dokumentation. Das Bildbedürfnis ist im Familienalbum großteils zufrieden gestellt. Das gegenwärtige Menschenbild scheint wirklich durch das Foto geprägt. In Wahrheit nimmt die Fotografie aber der Bildnismalerei nur eine Rolle ab, nämlich die, die äussere Erscheinung festzuhalten. Fotografieren ist präzise Wiedergabe des jeweils Sichtbaren, aber das Sichtbare wird nur fixiert. Das Ergebnis und es mag noch so hochwertig sein und es kann künstlerische Qualitäten haben, was z.B. Geschmack und Ästhetik betrifft, es bleibt aber immer nur Stückwerk. Die Leistung des Fotografen liegt im raschen Erkennen einer Situation, aber eben nur einer. Meiner Meinung nach ist das Fotografieren - und das ist für unsere Zeit symptomatisch - ein Sehen ohne Begreifen. Das Gegenüber, ob Mensch oder Ding, wird so zum Objekt gestempelt. Anders in der Kunst, in der es kein Objekt gibt. Der in Mode gekommene Foto-Realismus ist als Kunstform meiner Meinung nach ein Schein-Realismus, eine Profanisierung der Natur und eigentlich die banale Fortsetzung einer traditionellen Kunstform. Nein, die Linse kann das Auge nicht ersetzen. Ich erlaube mir, zu meiner Unterstützung Max Picard zu zitieren: "Das menschliche Auge nimmt nicht bloß wie die fotografische Kamera ein Gesicht auf, das es betrachtet. Das Sehen besteht nicht nur in einem Nehmen. Der menschliche Blick gibt dem anderen Gesicht auch, in dem er es betrachtet, ja er gibt sogar mehr als er nimmt. Und ein Menschengesicht lebt davon, dass es von einem anderen Menschengesicht angeschaut wird. Also, es ist ein Unterschied, ob ein Gesicht von einer Linse angeschaut wird, in der nichts ist und die darum nichts geben kann, oder von einem Menschenauge, in dem die ganze Welt ist und das darum die ganze Welt geben kann. Der Blick des Menschen ist ein nährender Blick." Die geistige Kraft dieser Aussage, diese wunderbare Erkenntnis bestätigen mich in meiner Überzeugung, dass Bildnismalerei die Spiegelung geistiger und seelischer Werte verlangt. Und ich meine: Kunst hat als kreativste Form des Erkennens direkten Zugang zum Wesen des Menschen.

Zuletzt noch zu meinen persönlichen Zielen. Im Portrait will ich dem Wesen des Dargestellten Ausdruck geben. Unter den vielen Aspekten, unter denen man das Menschenbild sehen kann und die der heutigen Situation des Menschen gerecht werden können, erscheint es mir erstrebenswert, seelische und geistige Werte und die Relationen aufzuzeigen, in denen er zu seiner Umwelt steht. Das milieubetonte, konventionelle Erscheinungsbild genügt nicht, das wahre Wesen eines Menschen zum Ausdruck zu bringen. Ist doch Bildnismalerei in erster Linie eine geistige Tätigkeit. Sie behandelt ein geistig-seelisches Thema und verbindet über die Information hinaus Erscheinung und Innenbild zu einer neuen Wesenseinheit. Ein Portrait ist daher nur dann gut, wenn es gelingt, die private menschliche Situation in ein allgemeine umzuformen und aufzuzeigen, wo der dargestellte Mensch Zugang zum Universellen hat. Beschaulichkeit, anekdotisches oder ein milieuhafte Situation sind für mich nur von fragmentarischer Wirklichkeit. Es ist mein Wunsch, über das Augenblicksbild des Dargestellten hinauszugelangen. Das innere Bild muss über das äußere hinauswachsen.

Der Meinung, dass bei der Darstellung des Menschen heute nur Problematik einen speziellen Zeitausdruck verbürgt - eine Meinung, die diktatorisch nur Zwangsvorstellungen und schockierende Behauptungen gelten lassen will - dieser Meinung, dieser Einschüchterung, möchte ich bewusst mit meiner Arbeit entgegentreten. Ich versuche, unvergängliche menschliche Werte nicht nur als Möglichkeit, sondern als Wahrheit im Bild vom Menschen festzuhalten. Allein schon die reiche Vielfalt menschlicher Physiognomien, diese, des Wunderns und Staunens werte Vielfalt des Erscheinungsbildes, rechtfertigt die Aufzeichnung und fordert Ergründung und Deutung. Sicher gibt es kein allgemeines Rezept, von dem her der Mensch gesehen und beurteilt werden könnte. Sicher sind im Menschen die gegensätzlichsten Kräfte am Werk und sicher wäre eine schwärmerische Idealisierung verfehlt. Aber das Verlangen nach äußerer und innerer Schönheit und Haltung ist nicht bloße Schöngeisterei oder gar beruhigende Lebenslüge. Und vielleicht bedarf der Mensch besonders heute einer Gesinnung, die eine Neubewertung, eine Würdigung mög- lich macht. Denn gerade heute erweist sich nur tiefste Menschlichkeit als Größe. Ich glaube an ein unveränderliches Wesen des Menschen durch alle Zeiten. Ich glaube, dass hinter aller Wandlungsfähigkeit ein ruhender Pol liegt, ein Zentrum, das intakt bleibt, das unberührt bleibt von allen Fairnissen des Lebens: Der Wesenskern. Es gilt, den Menschen in seiner Eigenart zu erfassen. Eine respektvolle Distanz wird uns davor bewahren, eigene Wunschbilder in den anderen hinein zu projezieren. Es gilt, die Eigentümlichkeit des anderen wahrzunehmen, zu respektieren, den anderen also anzunehmen. Dann erst wird das "gemeinsam Wahre" zur Geltung kommen. Bedarf nicht unsere Gegenwart dringend der Deutung ins Zeitlose, bedarf sie nicht des Mitgefühls für die Höhen und Tiefen des menschlichen Lebens? Das Bild vom Menschen in einer visionellen Orientierug festzuhalten, bleibt Aufgabe und Auftrag des Künstlers. In der Bildnismalerei ist und bleibt das Portrait - als Bekenntnis des Künstlers, wie auch als Bekenntnis des Dargestellten zu sich selbst - sicher Zeugnis der Zeit und zugleich aber auch Brücke zwischen allen Zeiten. Der Mensch darf sich nicht in Frage stellen. Das Bekenntnis zum Leben entscheidet unsere Zukunft.

Wien, den 28.10.1985


 
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