Texte - Herbert Stepan - Kunst und Zivilisation

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Herbert Stepan

Kunst und Zivilisation

Unter Zivilisation versteht man im allgemeinen die Gesamtheit der technischen und kulturellen Einrichtungen die sich die Gesellschaft gibt und sozusagen als Grundregeln ihres Zusammenlebens anerkennt. Wenn wir nun die Bereiche Kunst und Zivilisation einander gegenüber stellen, sehen wir ihre Verbundenheit, ihre Abhängigkeit voneinander, aber auch das Trennende. Wir sehen beide in Übereinstimmung, aber auch in erschreckender Diskrepanz. Es fragt sich, ob wir als Zeitgenossen das heutige Geschehen überhaupt beurteilen können? Wir sehen und erleben und erleiden Erscheinungen und Äußerungen auf allen Lebensgebieten, die wir entweder bejahen oder verneinen. Ist es aber möglich, die tiefsten Beweggründe aufzuspüren oder gar zu erfassen, um Richtlinien zu finden und Ziele zu setzen? Ob es hilfreich sein kann, den vielen und verschiedenartigsten Lebens- und Kulturphilosophien großer Geister nachzuspüren, sich da einzulesen, sich diesen oder jenen Gedankengängen anzuschließen, muß jeder von uns für sich selbst entscheiden. In allen Philosophien bieten sich Erkenntnisse an, verlocken Theorien, es werden Feststellungen getroffen die nicht anzuzweifeln sind. Alle aber erweisen sie, dass die menschliche Grundhaltung unserer Zeit keineswegs entschieden ist und sie lassen auch kaum Hoffnung, dass eine einheitliche Kultur auch nur abzusehen oder zu erwarten wäre. Je nach eigener Mentalität oder Grund- haltung wird die Entscheidung des Lesers ausfallen, er wird zustimmen oder ablehnen müssen. Verwirrt steht man vor der Fülle von Theorien, die jede für sich - trotz großer Widersprüchlichkeit im gedanklichen Ziel - Aspekte bieten, deren Wahrheitsgehalt kaum zu bestreiten ist. Alle aber zeigen sich mehr oder weniger vom Pessimismus geprägt oder lassen Resignation als Ursache des Denkprozesses erkennen. Der Psychoanalytiker spricht vom Vorrang der elementaren Triebe, von der Macht des Unterbewussten. Er entwertet allerdings den Geist, der von Zwängen befreien kann. Der Relativist kennt keine zeitlos gültige Wahrheit, er kennt nur verschiedene Wahrheiten für verschiedene Zeitalter.

Der Pragmatiker nennt nur das wahr was sich als lebensfördernd erweist. Für den Positivisten gibt es keine überzeitlichen Probleme, keine objektive Wahrheit, seine Weltorientierung ist auf Praxis ausgerichtet. Spengler spricht von der erhabenen Zwecklosigkeit des Lebens, sein Pessimismus hat heroische Züge. Der Existenzialist erkennt den Menschen "zur Freiheit verurteilt", er, der Mensch wäre eine nutz- lose Passion, aber seine Würde läge darin, dass er der Schöpfer seiner selbst sein könne. Im "Wähle Dich selbst" sei Humanismus zu erkennen.

Wie weit aber reicht dieser oder jener philosophische Gedanke wirklich in unsere Existenz? Wie weit macht er uns unser Dasein bewußt? Sicherlich wird auch heute die Philosophie ihre Aufgabe erkannt haben. Tritt sie wieder in den Vorgrund? Da selbst in der Physik der Begriff Materie nicht mehr feststeht, wird Physik sogar zur Philosophie, sie greift philosophische Probleme auf, die zu einer Ethik führen können. Können wir uns an die Denker halten, die meinen, dass Zersetzung die Vorbedingung zu neuem Aufstieg in sich trägt? Die meinen, dass der Mensch immer noch die Freiheit habe, sein Schicksal zu wenden und das vergangene Kulturen in kommenden fortleben?

Um mir selbst zu Erkenntnissen zu verhelfen, erscheint es mir, für meine Person nur, nützlicher zu sein - anstatt den Lebenstheorien der Philosophen nachzuhängen und deren Erkenntnisse anzueignen - gleichsam von einem Alltagsstandpukt aus, die Zeiterscheinungen zu betrachten und sie zu befragen. Obwohl wir alle sehr betroffen sind, muss versucht werden, einen Beobachtungsstandort einzunehmen, um nach Gewissheiten in unserer Zeit zu suchen und um zu erfahren, ob unser humanistisches Denken sich noch als stark genug erweist, folgenschwere Fehler der Gegenwart nicht nur zu sehen und zu erkennen, sondern sie vielleicht aufzuhalten. Wir nennen das Verhalten eines Menschen mit gewisser Genugtuung zivilisiert, wenn er erwünschte Anstandsregeln nicht verletzt. Mit Hochachtung sprechen wir aber vom kultivierten Menschen und wir meinen damit nicht nur den in einer Tradition stehenden, oder den eine Lebensform vollendet beherrschenden Menschen, sondern einen, der gleichsam die Verantwortung für sich selbst auf sich genommen hat, als hätte er sich selbst geformt, als hätte er sich auf überindividuelle Werte hin geordnet.

Haben wir heute eine Kultur? Oder ist eine bereits vergangene und überlebte in Zivilisation ausgelaufen? Man spricht heute von einer Industriekultur. Ist diese mit Humanisierung zu vereinigen? Human nennt man doch ein Kulturstreben, das auf die Bewältigung menschlicher Lebensaufgaben gerichtet ist. Wie ist aber die gegenwärtige wirtschaftliche und geistige Situation unserer Gesellschaft beschaffen? Wonach ist ihr Streben gerichtet? Es ist eine Binsenwahrheit und es ist unbestreitbar, dass sie auf das Nützliche ausgerichtet ist, in dem fanatischen Glauben, dass nur das Nützliche der menschlichen Gemeinschaft zum Wohle gereichen kann. Geprägt vom Konsumdenken und einen maximalen Lebensprofit und Genuss als Ziel, soll das industrielle Wachstum - garantiert durch Rationalisierung von allem und jedem - den Wohlstand zum Selbstzweck machen. Eine wahrhaft entfesselte Technik und Wissenschaft - als Fortschritt der Menschheit propagiert - verfolgt in Wahrheit sehr eigennützige und materielle Ziele. Stolz sich als Leistungsgesellschaft präsentierend, ist unsere heutige Gesellschaft aber nicht einmal imstande, die soziale Wohlfahrt des Menschen wirklich zu garantieren oder auch nur ausgleichend in der Welt zu wirken. Und sehr verletzlich durch ihre Kompliziertheit beschwört diese Zivilisation physische und psychische Gefahren auf allen Lebensgebieten und bald in allen Teilen der Welt herauf. Unsere heutige gelenkte und geplante Zivilisation verletzt sicherlich die Grundregeln des menschlichen Zusammenlebens, zwängt den Menschen in festgelegte Geleise und führt ihn von der Individualität weg, so dass er sich in der Masse verlieren muss. Und dieser fragwürdige Fortschrittsglaube, diese blindwütige Rationalisierungssucht und dieser Wille, nur das für wirklich zu halten was messbar ist, dieses Planen und Organisieren lässt den Planern bald alles als "machbar" erscheinen.

Nur - Kultur wird aber nie machbar sein! Ihr Wachsen lässt sich nicht planen, lässt sich nicht erzwingen. Kunst und Kultur liegen allerdings auch nicht im Bereich des Nützlichen - heute keinesfalls. Und so gehört es zwangsläufig zu den Miseren einer Industriekultur alles "Schöpferische" abzuwürgen. Auch wenn man das Schöpferische in "Kreativ" umbenennt und diesen oder jenen Lebensbereich "kreativ" machen will und also auch wieder etwas geplant und mit Methode zum Wachsen bringen will. Es ist bezeichnend, wenn heute der Versuch gemacht wird, die Kunstszene vom Kunstkonsum her zu erforschen - allein das Wort Kunstkonsum ist schon erschreckend genug - um dann die sogenannte Kunstförderung danach auszurichten. Gewiss, der Künstler muss das unfähigste Mitglied in einer Gesellschaft bleiben, die sich selbst als Leistungsgesellschaft erkennt und will und deklariert. Und wenn auch immer schon, oder schon lange das Verhältnis zwischen Kunst und Gesellschaft, zwischen Kultur und Zivilisation zu einer Streitfrage geworden ist - fast jede Zeit hat sich mit dieser Frage beschäftigt - für heute steht es leider ausser Streit, für heute ist es augenscheinlich, dass die Kunst, insbesonders die bildende Kunst, und ich beschränke mich ausschließlich auf sie, nicht gefragt ist und nicht gebraucht wird. Wo sollte auch für sie Raum sein in einer technischen Zivilisation, die alles Irrationale aus dem Denken verbannt hat?

Es liegt aber nicht ausschließlich am Fehlen einer kulturtragenden Schicht, auch nicht an den politischen Verhältnissen allein und am materialistischen Denken unserer Zeit, dass die Rolle des bildenden Künstlers in der Gesellschaft ausgespielt erscheint. Die Kunst selbst hat sich in langen Phasen einer eigentlich leidvollen Geschichte emanzipiert. Die Gründe sind schwer überschaubar, die Erkenntnisse und Behauptungen darüber füllen Bände in der Kunstgeschichte. Die Entfremdung von ihrer sozialen Funktion, und damit von der Gesellschaft, ließ es dann nur mehr zu, höchstens mit Gruppen oder Klassen zeitweise sozusagen solidarisch zu sein. Die Rolle des Künstlers wechselt nach der Art des Auftraggebers. Es ist im besten Sinne einmal eine dienende Rolle gewesen, die der Künstler zu praktizieren hatte. Und von der Praxis her konnte der Einfluss der Kunst direkt oder indirekt erfolgen. Der Antrieb der künstlerischen Leistung und zugleich ihre Voraussetzung, war immer das Streben nach Mitteilung, nach Kommunikation, sie war einmal wirklich mit den Interessen des Alltags verbunden. Schon in ganz frühen Zeiten war praktisches und ästhetisches Interesse untrennbar. Und bis ins hohe Mittelalter hinein genoss der noch handwerklich gebundene Künstler - trotzdem er sogar anonym blieb, da die Funktion der Kunst Vorrang hatte - eine Sonderstellung. Die Beauftragung, die Anerkennung seiner Handfertigkeit, der ideologische Charakter seiner Arbeit, die kultische Aufgabe machte ihn zum Spezialisten. Damals, sozial oft nicht sehr hoch eingestuft, war seine künstlerische Freiheit trotz- dem nicht davon beeinträchtigt. Es erwiesen sich ja seltsamerweise zu allen Zeiten Beschränkun- gen, welcher Art immer, keineswegs als unüberwindliche Hindernisse für ein eigenständiges künstlerisches Schaffen. Es ist doch so, dass die Voraussetzungen vom Gelingen von Kunst jenseits von Bindung oder Ungebundenheit, jenseits von Freiheit oder Unfreiheit liegen. Wechselnd im Wandel der Zeiten, wechselt auch die wirtschaftliche Lage und die gesellschaftliche Stellung des Künstlers. Das Patronat über die Künste war einmal öffentlich. Es wird im Laufe der Jahrhunderte zu fürstlicher, kirchlicher, höfischer, bürgerlicher Kunstförderung, es wird zuletzt zum Sammler- und Gönnertum. Der Künstler fällt vom Handwerk ab, er wird ein freier geistiger Arbeiter, ja seine Freiheit wird später sogar als Privileg des Genies anerkannt, zuletzt aber ist er allein auf sich gestellt. Sein subjektiver Ausdruckswille hat Vorrang, er entfremdet sich dem Publikum immer mehr. Die Kunst wird autonom, fast könnte man von einer Inzucht einer rein ästhetischen Kultur sprechen, wo der Gegenstand der Kunst die Kunst selbst ist.

Das sind heute, auch von der Seite des Schöpferischen her, schier unüberwindliche Hindernisse und jedenfalls die schlechtesten Voraussetzungen, jemals der Kunst ihre soziale Funktion zurückzugewinnen.

Unsere wirtschaftlich ausgerichtete, dem Wohlstand und der sozialen Gerechtigkeit verschriebene Gesellschaft hat keine Kulturträger mehr. Die Wirtschaft, heute vielleicht dazu prädestiniert und ganz gewiss auch in der Lage, investiert aber ihre erzielten Mehrwerte wiederum in industrieller Produktion. Kein Gedanke heute, Mehrwerte wie einst, für Kulturerzeugnisse zu verwenden. Wer käme auf den Gedanken einen Palast zu bauen? In einer Zeit in der soziologische, hygienische, statistische, technische und fiskalische Forderungen Vorrecht haben. Eine blindwütige Rationalisierung, die alles am Geld misst, das erspart werden soll, führt dazu, dass die Architektur z.B. überhaupt jeden künstlerischen Ehrgeiz bereits verloren hat, und kaum mehr ein Bauwerk schaffen kann in dem sich der Mensch wohlfühlt.

Mit Erschrecken überfällt einen der Gedanke, dass soziale Ungerechtigkeit oder zumindestens Ungleichheit Voraussetzung für kulturelle Leistungen, ja sogar deren Existenzbedingung gewesen sein müss. War diese soziale Ungleichheit nicht doch vielleicht natürlicher, ja war sie nicht vielleicht deshalb sogar humaner, weil sie Kultur hervorrief und mit dieser Kultur dem Menschen zu einer geistigen Ordnung verhalf, zu einer Ordnung, die er heute entbehrt. Das ist eine bitter schwere Überlegung, die unser demokratisches Empfinden schwer beunruhigen kann und auf eine harte Probe stellt. Von solchen Überlegungen her erweist sich die Zivilisation heutiger Prägung - zumindestens heute noch - als schlechte Basis für Kunst und Kultur. Aber der Staat hat heute die Aufgabe der Kunstförderung übernommen. Da diese staatliche Kunstförderung sich aber allzuoft in Betriebsamkeiten und in Alibihandlungen erschöpft, muss immer wieder auf die Pflicht des Staates verwiesen werden, die Kunst zu fördern, d.h. der Staat muss in Kunst investieren. Eine Investierung, die in der Wirtschaft zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Denn die Industrie muss ja z.B. die Forschung fördern. So muss der Staat die Kunst fördern, ein- fach in Anbetracht der Erkenntnis, und dafür sprechen doch geschichtliche Beweise genug, dass Kunst ein notwendiger Bereich in der Gesellschaft ist. Der Staat muss es sich leisten, in Kunst zu investieren in Anbetracht der Wichtigkeit der Kunst als Kommunikationsmittel innerhalb der Gesellschaft.

Kultur ist aber nicht machbar! Zur bereits erwähnten angekündigten Grundlageforschung im kulturellen Bereich, wäre zu sagen, dass Erforschung des Kulturkonsums und eine eventuelle Ausrichtung danach, kaum zielführend sein könnte und eher zu befürchten wäre. Aus der Rückständigkeit im Kulturverhalten dürften doch keine Schlüsse für eine förderliche Kulturpolitik gezogen werden! Es ist bestimmt weiters keine Grundlage für eine gute Kulturpolitik, im Kunstwerk das Wertobjekt oder die Wertanlage zu propagieren, wie es heute geschieht. Wie auch die heutige Überbewertung einer vervielfältigenden Kunst (Druck, Multiples etc.), die wohl der heutigen Konsumgesellschaft schon vom Produktionsvorgang her begreiflicher und angepasster erscheinen mögen, eine Bevorzugung des Kunstmarktes nach sich zöge. Wobei wirklich zu bedenken bleibt, dass Galerie-Unwesen und Kunstmarkt die Funktion der Kunst in Wirklichkeit verzerren. Auch Bedürfnisse, die nicht da sind, können nicht geweckt oder gar aktiviert werden. Es sollte nicht um eine Popularisierung und Verbreitung der Kunst gehen. Gewiss, derzeit kann eine staatliche Kunstförderung nur ein Kompromiss sein. Diese beamtete Kunstförderung, obwohl abhängig von der größeren oder kleineren Einsicht oder gar Gunst der Referenten, bleibt trotzdem immer noch das kleinere Übel, da auch die Differenzen der Ansichten über Kunst heute unüberbrückbar sind und keine Maßstäbe vorhanden sind und auch in naher Zukunft keinerlei Einigung darüber zu erwarten sein wird. Deshalb kann es auch, meiner Meinung nach, leider keine wirkliche Parität in Kunstgremien geben. Denn es gibt keine neutralen Beteiligten, weder bei den Künstlern noch bei den Kritikern, noch bei den Kunsthistorikern oder bei sonstigen Interessenten. Das Mitspracherecht der Künstler muss unbedingt berücksichtigt bleiben. Erschwerend wirkt heute auch der Streit um die Politisierung der Kunst. Ob sie berechtigt oder falsch ist, ob sie gesellschaftsverändernd zu sein hat, ob sie es sein darf, ob sie es überhaupt sein kann. Ob es Bildungsprivilegien geben soll oder darf, ob Kunst elitär ist oder ob sie es nicht sein darf. Kultur ist aber immer die Leistung einer Minderheit, auch in einer vom Mehrheitswahn besessenen Zeit sollte man das nicht vergessen. Eine Kunstförderung müßte von dem Wissen ausgehen, dass die künstlerische Tätigkeit von allgemeinen menschlichen Problemen bewegt wird, dass sie von diesen auszusagen hat und dass sich in dieser künstlerischen Tätigkeit außerdem heute allein noch die doch noch mögliche prinzipielle menschliche Freiheit zeigt. Zu der unbestreitbar überwiegenden Technisierung unserer Umwelt, zu unserer technischen Zivilisation also, möchte ich Max Frisch zitieren. Er sagt: "Die Technik ist ein Kniff, die Welt so einzurichten, dass wir sie nicht erleben müssen. Die Manie der Technik sei es, die Schöpfung nutzbar zu machen, weil sie sie als Partner nicht aushält". Besser kann die Selbstentfremdung des Menschen und das Bedrohliche unserer Situation nicht bewusst gemacht werden, als mit diesen Worten. Max Frisch fügt noch hinzu: "Leben ist aber nicht mit Technik zu bewältigen".

Wir müssen uns also bewusst machen, dass innere Besinnung, Besinnung auf innere Werte notwendig ist, dass stärkere seelische Kräfte den rationalen Überlegungen entgegengesetzt werden müssen. Wir müssen uns bewusst machen und es auch geltend machen, dass der Mensch eine Berufung hat, dass er doch als ein Kulturwesen oberhalb der natürlichen Wirklichkeit, in einer von ihm selbst erschaffenen und zu behauptenden Welt steht. Dass er ein Ziel hat, das über sein naturhaftes Dasein hinausgeht. Der Mensch, der sich auf überindividuelle Werte hin geordnet hat, wird auch wieder eine Kunst und Kultur schaffen, die ihre soziale Funktion zurückgewinnen kann. Allein von sich aus kann das aber der Künstler nicht.

"Wenn die Allgemeinheit keine Götter mehr kennt, so baut ihnen auch der Einzelne, der noch an sie glaubt, keine Tempel mehr." Der Schweizer Kunsthistoriker Hans Nach fand diese Worte und er spricht vom Verlust jener verlässlichen Werte, die einmal die schöpferische Individulität und ihr Publikum auf etwas Zentrales einigten. Bekennen wir uns zu den Worten Albert Schweitzers: "Welt und Lebensbejahung an sich kann nur eine unvollständige und unvollkommene Kultur hervorbringen. Erst wenn sie sich verinnerlicht und ethisch wird, besitzt sie den aus ihr ergebenden Fortschrittswillen, die zur Unterscheidung zwischen dem Wertvollen und dem weniger Wertvollen erforderliche Einsicht und erstrebt eine Kultur, die nicht nur aus den Errungenschaften des Wissens und Könnens besteht, sondern vor allem den Menschen und die Menschheit geistig und ethisch voran bringen will."

Wien, den 27.1.1975

 
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